Miteinander statt gegeneinander - Wie Familien richtig streiten

Wer mit anderen Menschen zusammenlebt, weiß: Ohne Konflikte geht es selbst oder gerade im Alltag nicht. Überall dort, wo unterschiedliche Meinungen und Haltungen aufeinandertreffen, wird diskutiert und zuweilen heftig gestritten. Streiten ist daher unvermeidbar und gehört zum Leben.

In Familien mit Kindern kommt dabei eine besondere Dynamik hinzu. Je nach Entwicklungsstufe des Nachwuchses und seiner altersentsprechenden Art, Grenzen zu testen, ändern sich die typischen Konfliktfelder. Insbesondere die Pubertät, in der die Jugendlichen sich von uns als Eltern lösen und nicht selten über die Stränge schlagen, bietet reichlich Anlässe für Auseinandersetzungen.

Und damit nicht genug… Auch als Paar kommen wir immer wieder in Streitsituationen und stehen früher oder später nicht zuletzt vor der Frage, ob wir diese vor unseren Kindern austragen sollten.

Kurz gesagt: Streiten ist einerseits normal - und andererseits wenig beliebt. Wer streitet schon gerne? Unser Streben nach Harmonie sorgt dafür, das wir Streits so oft wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Allzu leicht geraten dabei die Chancen in Vergessenheit, die in Konflikten liegen. Wenn wir Streits konstruktiv angehen und ihr Potenzial nutzen, können wir und unsere Kinder an ihnen wachsen und die Basis für ein erfülltes Familienleben schaffen. Wie du eine positive Streitkultur in deiner Familie etablieren kannst und worauf es bei einem guten Konflikt ankommt, erfährst du in den nächsten Abschnitten.

Wie streiten wir richtig?

Genau wie in anderen Bereichen gilt auch beim Streiten: Kinder lernen am Modell. Die Art und Weise wie in deiner Familie mit Meinungsverschiedenheiten umgegangen wird, prägt das Verhalten deiner Kinder daher auch in anderen Kontexten und beeinflusst sein zukünftiges Konfliktverhalten.

Aus diesem Grund sollten wir als Eltern stets als gutes Vorbild vorausgehen und unseren Kinder vorleben, wie ein kultivierter Streit aussehen kann. Streitest du konstruktiv und wertschätzend mit deinem Partner oder Freunden, kann dein Kindern dabei durchaus Zeuge sein. Auf diese Weise lernt es, wie sich ein Streit aufbaut, wie man mit der Meinungsverschiedenheit umgeht und wie man im Idealfall am Ende eine gemeinsame Lösung findet.

Keine gute Idee ist es neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge hingegen, Streitigkeiten mit dem Partner bewusst vor den Kindern zu verheimlichen. Sie spüren die „dicke Luft“ schon, wenn sich der Streit unterschwellig aufbaut und geraten unweigerlich unter Spannung. Bekommen die Kinder die Austragung und Lösung des Konflikts dann nicht mit, können sie schnell falsche Schlussfolgerungen ziehen und lernen zudem nicht, wie man mit einem Konflikt umgeht. Im schlimmsten Fall entsteht bei den Kindern der Eindruck, sie wären der Grund für den Streit oder sie folgern, dass die Stabilität der Familie bedroht sei.

Lebst du bzw. lebt ihr euren Kindern dagegen regelmäßig vor, wie man Konflikte konstruktiv und wertschätzend löst, profitiert davon das ganze Familienleben. Ihr lernt die hintergründigen Bedürfnisse der anderen kennen, findet heraus, was gerade nicht gut läuft und entwickelt euch als Familie kontinuierlich weiter.

Ganz anders sieht es aus, wenn Konflikte um des vermeintlichen Friedens willens häufig heruntergeschluckt werden. Dann ist nicht nur kein ehrliches Zusammenleben möglich, sondern früher oder später folgt allzu oft der große Bruch, wenn sich die lange aufgestaute Spannung mit einem Schlag entlädt.

Auf den Punkt gebracht: Solange Streits eine produktive Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen Einzelner nach sich ziehen, sind sie gut für das Zusammenleben und zeigen deinen Kindern zugleich, wie sich Konflikte konstruktiv lösen lassen.

Strategien für eine wertschätzende Streitkultur

Möchtet ihr eine solche Streitkultur in eurer Familie schaffen, helfen folgende Tipps und Fragen zur Selbstreflexion:

Sind wir momentan in der richtigen Verfassung, um zu einer guten Lösung zu kommen oder sollten wir die Klärung des Konfliktes auf einen späteren Zeitpunkt verschieben? Wenn ja: Wann ist dieser Zeitpunkt? Legt einen verbindlichen Termin fest! Berücksichtigt dabei eure unterschiedlichen Bedürfnisse bei einem Konflikt. Von „Ich möchte gleich darüber sprechen“ über „Ich brauche erstmal Zeit“ bis hin zu „Ich brauche Raum, um mich vorübergehend zurückzuziehen“ gibt es verschiedenste Vorlieben im Umgang mit Konflikten. Wenn möglich, solltet ihr diese berücksichtigen. Tretet einen Schritt zurück und fragt euch: Warum streiten wir gerade? Worum geht es uns wirklich? Auch wenn es manchmal schwerfällt: Bleibt bei den Fakten und vermeidet nicht zutreffende Verallgemeinerungen. Selten tritt ein Verhalten „immer“ „nie“ oder „ständig“ auf. Benutzt Ich-Aussagen. Testet, ob eurer Streitpartner nicht positiver reagiert wenn er oder sie statt dem vorwurfsvollen „Du“ ein persönliches „Ich“ hört. Lasst das Wort „nicht“ weg. Die Gehirnforschung hat schon vor längerer Zeit bewiesen, dass unser Gehirn das Wort „nicht“ häufig kaum wahrnimmt und es aus vielen Aussagen einfach weggefiltert. Wenn ihr eurem Kind also nahelegt, auf dem Weg zur Schule „nicht herumzutrödeln“, dann wird es höchstwahrscheinlich nur das Wort „trödeln“ im Kopf behalten und erst recht langsam laufen. Streitet in normaler Lautstärke. Schreien hilft weder euch noch eurem Gegenüber. Bringt eure Emotionen auf angemessene Art und Weise zum Ausdruck. Im Gegensatz zu einem verbreiteten Irrglauben ist Fluchen per se nicht schlimm und durchaus emotional entlastend - solange der andere dabei nicht verletzt wird. Eure Aussagen sollten sich daher nur auf die Sache beziehen (z.B.: „Dieser Mist macht mich so wütend!“). Vermeidet Beleidigungen und persönliche Angriffe. Dieser Punkt hängt stark mit dem vorherigen zusammen. Seid ihr auf dieser verletzenden Ebene angelangt, ist eine einvernehmliche Konfliktlösung kaum noch möglich. Haltet Abstand. Jede Körperlichkeit ist im Streit tabu. Streitet respektvoll und hört einander zu. Hilfreich sind dabei Fragen wie „Verstehe ich dich richtig, dass … ?“ Reflektiert euer eigenes Verhalten: War ich immer fair? Habe ich mich richtig verhalten? Warum trifft mich das gerade so? Warum reagiere ich so stark? Antwortet sachlich auf Argumente und Vorwürfe. Achtet darauf, wann ihr nur noch auf der emotionalen Ebene kämpft und die Tatsachen aus den Augen verliert. Dann ist es an der Zeit, die Diskussion vorübergehend zu beenden und sich zunächst innerlich „abzukühlen“, bevor ihr einen neuen Versuch startet. Streitet ihr stattdessen trotz hochkochender Emotionen weiter, wird eurer Konfliktpartner ebenso emotional reagieren und persönliche Beleidigungen werden immer wahrscheinlicher. Blickt mit einer neuen Sichtweise auf festgefahrene Konflikte. Ihr streitet als Team über die gemeinsame Sache, statt den anderen zu bekämpfen. Wechselt die Perspektive. Wie fühlt sich dein Gegenüber gerade? Wie würdet ihr euch an seiner bzw. ihrer Stelle fühlen? Sucht nach gemeinsamen Wünschen und Ideen: Was wünschst du dir von mir? Was wünsche ich mir von dir? Was wünschen wir uns gemeinsam für die Zukunft? Entschuldigt und versöhnt euch. Um den Streit endgültig hinter sich zu lassen, kann ein festes Versöhnungsritual in der Familie helfen. Besonders für Kinder ist dieses Ritual oftmals enorm wichtig, um wieder zum gewohnten Alltag übergehen zu können. Holt euch professionelle Hilfe, wenn ihr alleine nicht weiterkommt. Familienberatungsstellen sind die richtige Anlaufstelle, wenn ein Streit zu eskalieren droht. Hier findet ihr Experten, die euch helfen, wieder zueinander zu finden. Und nicht zuletzt: Vorbeugen ist auch beim Streiten besser als Heilen. Wenn ihr im Vorfeld klären könnt, was jedes einzelne Familienmitglied braucht, fällt es euch im Konfliktfall leichter, auf eben diese Bedürfnisse einzugehen und einen gemeinsamen Weg zu finden. Auf dieser Basis findet ihr wesentlich einfacher zu einem wertschätzenden und entspannten Gesprächsklima. Anmerkung: All diese Punkte gelten sowohl für den Streit mit dem Partner als auch für Konflikte mit den Kindern.

Ich wünsche euch viel Erfolg bei der Umsetzung!